Das Viktorianische Internet
Das Internet ist nichts Neues. Bereits vor 150 Jahren war die Welt so vernetzt, daß Informationen in Sekundenschnelle über Kontinente und Ozeane hinweg übertragen wurden. Waren wurden gehandelt, Börsenkurse weitergegeben, Nachrichten über aktuelle Ereignisse verbreitet und persönliche Mitteilungen ausgetauscht. Die Menschen des 19. Jahrhunderts würden wir wahrscheinlich mit unserem "Information Superhighway" nicht sonderlich beeindrucken, einen solchen hatten auch sie schon. Computer sind für die Existenz eines weltumspannenden Internet, für die sekundenschnelle Weitergabe von Informationen nicht unbedingt notwendig. Das ließ sich auch mit Telegraphen bewerkstelligen.
Lokale Telegraphennetze waren mit nationalen und internationalen Netzwerken verbunden, große Firmen hatten auch schon im letzten Jahrhundert ihre eigenen internen Networks. Informationen wurden, wie heute, in codierter Form übertragen und sowohl die Telegraphie als auch das heutige Internet entwickelten eine eigene netzwerkorientierte Subkultur. Der Telegraph des 19. Jahrhunderts und das heutige Internet wurden ferner gleichermaßem nach anfänglicher Skepsis mit Euphorie und überzogenen Erwartungen begrüßt. Beiden wurde die Hoffnung auferlegt, sie könnten zur besseren Völkerverständigung und zum Weltfrieden beitragen. Der Beweis ist (bisher) jedoch in beiden Fällen ausgeblieben. Nur im kleinen Rahmen stifteten sie Harmonie: Beide Netzwerke erlebten Online-Hochzeiten.
Als technologiehistorisches Bindeglied zwischen Telegraphie und heutigem Internet entwickelte sich schließlich das Telefon. Mehr oder weniger zufälliges Produkt bei dem Versuch, leistungsfähigere Telegraphensysteme zu entwickeln, löste es um die Jahrhundertwende herum in großem Umfang den Telegraphen ab und erleichterte dann in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts den Siegeszug des Internets. Die gleiche Organisation immerhin, die ITU, die ab 1865 das internationale Telegraphiewesen regulierte, entscheidet noch heute darüber, welche Protokolle von den für den Datenaustausch im Internet notwendigen Modems benutzt werden.
Tom Standage beschreibt in seinem außergewöhnlichen Buch anhand vieler Beispiele die Geschichte der Telegraphie und ihrer unbeirrbaren Wegbereiter, von den optischen Telegraphen im napoleonischen Frankreich und den ersten elektrischen Nachrichtenübertragungen in England und Amerika über die Schwierigkeiten bei der Verlegung der ersten transatlantischen Kabel bis zum weltweiten Siegeszug der Telegraphie und der damit verbundenen grundlegenden Veränderungen in der Wirtschaft, im Zeitungswesen und in der internationalen Politik.
Die Telegraphie war ein revolutionäres Medium, beschleunigte sie doch die Informationsbeschaffung in vielen Fällen von Tagen und Wochen auf Minuten- und Sekundenschnelle. Das revolutionäre Element des Internets ist im Vergleich dazu, nüchtern betrachtet, geringer als allgemein angenommen. Standage schafft es, die mit dem heutigen Internet verbundene allgemeine Aufregung bemerkenswert und begründet zu relativieren.
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